1 abt rhabanus bei der predigt CSC 0186Liebe Schwestern und Brüder,
"Ich sehe die Tiefe, aber ich kann nicht auf den Grund kommen" – so sagte es einmal der hl. Augustinus und dieses Wort kommt mir in den Sinn, wenn ich an den Karfreitag denke. Dieser Tag - er ist tief und unergründlich wie das Meer und mit seiner Unerschöpflichkeit berührt er mich, trifft mich, weckt eine ganze Reihe von Gefühlen in mir. Ja, ich kann es nicht anders sagen: Der Karfreitag geht mir unter die Haut! Er rührt mich an, er macht mich betroffen und bewegt mein Inneres.
Unzählige Bilder gibt es, die diesen Tag ein wenig einzufangen versuchen. Da haben Bildhauer und Schnitzer den Karfreitag in ihren Skulpturen eingefasst und Christus auf seinem Leidensweg dargestellt. Komponisten und Dichter haben sich ans Werk gemacht und den Tag virtuos in Melodien und Verse gekleidet. Und dabei denke ich an ein Lied, das mir schon seit Kindesbeinen bekannt ist und mit den Worten beginnt: „Sieh, Erd und Himmel, was die Welt heut für ein blutig Schauspiel hält, welch Tyrannei zu sehen; - O Jesus, welche Schmerzen, o felsenharte Herzen! – desgleichen nie geschehen.“
Was mag im Herzen des Dichters vorgegangen sein? Was hat ihn angerührt, als er diese Worte zu Papier brachte? – Wenn wir die Worte noch einmal nachklingen lassen, hören wir da nicht eines deutlich heraus: Sie entstammen keiner oberflächlichen Routine. Vielmehr klingt es so, als habe der Dichter sich eingefühlt in das Karfreitagsereignis. Als habe er sich mit Jesus auf den Weg gemacht: hinein in die Verspottung, hinein in die Geißelung und Demütigung. Als sei er mit auf den Golgotha gegangen, mit Jesus gestürzt und gefallen und wieder aufgestanden bis hin zur letzten Station – der Kreuzigung. „O Jesus, welche Schmerzen, o felsenharte Herzen!
Der Dichter nimmt auch uns mit auf den Weg, führt auch uns mit seinen Worten in die Wirklichkeit dieses Tages und stellt uns Jesus vor Augen, der am Karfreitag Schreckliches erfährt - nämlich die ganze Rohheit und Grausamkeit, die Menschen einem anderen Menschen zufügen können. Was Jesus erlitten hat, welche Schmerzen er ertragen musste, da kann ich nur mit Augustinus sagen: „Ich sehe die Tiefe, aber ich kann nicht auf den Grund kommen.“
Jesus – an der Geißelsäule, bei der Verspottung, mit dem Kreuz auf den Schultern und am Kreuz hängend. Er ist übersät mit Wunden und sein Leib ist blutig. Das ist das, was wir sehen, mit dem Sinn erkennen können. Aber da gibt es auch noch die andere Seite. Sein Herz! Er hat geliebt! Er hat die Menschen geliebt, indem er sie segnete, speiste und heilte. Indem er sie aus dem Gefängnis kleinkarierter Gesetzesfrömmigkeit führte und ihnen den Weg zum Vater wies.
Meinen lieben Schwestern und Brüder, wir sehen heute nicht nur den verwundeten und geschundenen Leib. Wir dürfen uns auch bewusst werden, dass das liebende Herz des Gottessohnes zutiefst von Trauer und Traurigkeit, von Schmerz erfüllt war. Seine Liebe, sein Herzblut, das in der Begegnung mit den Menschen geflossen ist – die allermeisten haben es mit dem Ruf „Kreuzige ihn“ beantwortet. - Können wir uns in diesen Schmerz einfühlen? In die nicht beachtete und verschmähte Liebe?
Liebe Schwestern und Brüder, ob nicht auch wir so manchen Schmerz im Herzen tragen? Jetzt in dieser Stunde! Schmerzen, die uns vielleicht schon vor langer Zeit zugefügt wurden und die bis heute andauern. Leid, das wir in uns tragen und das uns den Blick trübt und wir mit Augustinus sagen: „Ich sehe die Tiefe, aber ich kann nicht auf den Grund kommen.“
Unser Leid, unsere Schmerzen, unsere Seelennöte und Tränen – sind sie nicht auch mit so manchem Fragezeichen versehen? Stehen wir nicht auch manchmal vor einem Rätsel, wenn wir unsere Wirklichkeit betrachten?
Und wenn wir den Blick auf unseren Globus wagen und uns umschauen: Sind denn die Schmerzensschreie Jesu verstummt? Gibt es nicht zu viele offene Wun-den auf dieser Welt? Da werden Menschen kaltblütig durch Attentate ums Leben gebracht und wir stehen ratlos und erschüttert vor dieser grausamen Tatsache.
Die Angehörigen sind kaum zu trösten, weil sie einen lieben Menschen verloren haben und der Tag des Attentates prägt sich als unlöschbares Siegel in ihr Herz ein; fassungslos stehen sie am Sarg ihres geliebten Angehörigen. – Wunden, die lange nicht heilen werden und die eine Narbe hinterlassen, die erinnert und die immer wieder ruft und die Sehnsucht nach dem Geliebten weckt, den sie nicht mehr in die Arme schließen können.
Die entführten und entehrten Menschen und die Familien, die ihre Kinder vermissen. Eine Wunde am Leib der Menschheit. Ein Schrei, der bis zu uns dringt. Die vielen Menschen auf der Flucht – aus Angst vor Krieg und Terror, vor wirtschaftlicher Not, vor Hunger und Elend.
Liebe Schwestern und Brüder, wie eine Litanei könnten wir Beispiele nennen und kämen nicht zum Ende, weil der Schrei der Kleinen und Unterdrückten auf dieser Erde eingeborgen ist in den Schrei Jesu. Bis heute ist dieser Schrei des gekreuzigten Heilands zu hören und auch wir sind darin zu hören mit dem, was in uns wund und verletzt ist, was in uns abgestorben und leblos geworden ist.
Karfreitag – das ist für uns mehr als ein freier Tag mit etwas Liturgie. Nein, der Karfreitag ist wie seine Liturgie sehr nüchtern und klar. Er zeigt uns die Not Jesu, seine Schmerzen und seine Tränen, seinen Tod, und er will uns wachrütteln und hinweisen auf das Elend und die Not unserer Zeit.
Und doch birgt dieser Tag auch eine Verheißung, die wie ein kurzes Aufblitzen ist, als wolle sich der Himmel einen kleinen Moment trostvoll öffnen in dieser Nacht der Nächte und ein wenig Balsam in alles Wunde und Verwundete giessen. Nachher, wenn wir abschließend beten: „Allmächtiger, ewiger Gott, durch den Tod und die Auferstehung deines Sohnes hast du uns das neue Leben geschenkt.“ Selbst in dunkelster Nacht ruft uns Gott zu: Du, Mensch, gibt nicht die Hoffnung auf. Und vergiss eines nicht: Selbst in tiefster Nacht vermag ich, Dein Gott, ein Licht der Verheißung zu entzünden. Vertraue mir, lege dich in meine Hand. - Diesem Gott gehört unser Leben. Ihm vertrauen wir, ihm glauben wir, ihm gehören wir – im Leben und im Tod. Amen.

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