Liebe Schwestern und Brüder,

dieser Nachmittag ist anders als die vielen Nachmittage des Jahres. Er hat eine ganz eigene Prägung und das Gefühl, das dieser Nachmittag vermittelt, ist durchdrungen von Dunkelheit und Finsternis. Allein die Nüchternheit der Liturgie, das Fehlen der Blumen und der Kerzen, vor allem aber die Texte dieses Gottesdienstes und nachher die Kreuzverehrung – sie lassen uns spüren, dass dieser Nachmittag seine eigene Schwere, seine ganze eigene Bedeutung, seine ganz eigenen Konturen hat.

Friedrich Spee von Langenfeld, der bekannte Jesuit, Hexenanwalt und Dichter – er fasst die Tragödie des Karfreitag in die Worte: „O Traurigkeit, o Herzeleid! Ist das denn nicht zu klagen: Gott des Vaters einigs Kind wird zum Grab getragen.“

Und diesen Weg gehen wir mit dem Herrn. In dieser Stunde schauen wir auf den Schmerzensmann, auf Jesus, der verlassen und verleumdet, der verurteilt und gegeißelt das Kreuz auf die Schultern nimmt, der unterwegs fällt und immer wieder aufsteht, der schließlich gekreuzigt und seiner Mutter in den Schoß gelegt wird – gestorben nach all den Qualen. Auf ihn schauen wir in dieser Stunde – auf den Schmerzensmann, der einst als Freund der Menschen so viel Gutes tat. Und so viele hatten auf ihn gehofft. Alles zerschlagen! Das wird uns bewusst, wenn wir auf den Gekreuzigten schauen. Und mit ihm stellen wir die Frage, die übrig bleibt: „Warum, o Gott, warum? Warum musste er dieses Schicksal erdulden? – Und gar nicht weit davon entfernt steht unsere Frage: Warum ich? Wir alle haben doch auf je eigene Weise unser Kreuz zu tragen. Wir wissen alle um den Kreuzesbalken, der uns drückt, der uns beschwert und der uns manchmal die Luft zum Atmen nimmt.

Wenn wir heute auf Jesus schauen, dann spiegelt sich in ihm unser eigenes Gesicht, unser eigenes Leben. Das ist ein erster Blick am Karfreitag.

Wir werden mit uns selber konfrontiert, mit der Bürde und der Last unseres Lebens, mit dem Kreuz, das wir zu tragen haben und das wir zum Herrn bringen dürfen.

Ein zweiter Blick offenbart uns aber einen noch ganz anderen Horizont. – Da ist mehr als nur ein Mensch, der zerbrochen ist, der verloren hat.

Heute, am Karfreitag, wenn wir auf Jesus Christus schauen, wie er am Kreuze hängt, da wird deutlich, dass Gott uns und aller Welt kundtut, dass er zu den Verlierern gehört. Er steht nicht auf dem Podest bei den Siegern, er wird nicht umjubelt. Ganz schnell ist das Hosianna des Palmsonntag umgeschlagen zum „Kreuzige ihn“ des Karfreitag. Jesus gehört nicht zu denen, die gut dastehen. Heute zeigt er, wohin er gehört. Gott wirft sich in die Waagschale derer, die verlieren, die am Ende leer ausgehen. Und davon gibt es viele, damals wie heute. Menschen, die keine Chancen bekommen, die am Rande stehen, die ausgegrenzt werden. Für alle diese Menschen steht Gott ein, wenn er am Kreuz hängt zwischen Himmel und Erde.

Was für ein Mensch! Ja, was für ein Gott! Er durchkreuzt alle Vorstellungen die wir Menschen von ihm haben können. Nein, er ist kein Held, er ist kein unverwundbarer Streiter. Nein, das ist er beileibe nicht: Er ist einer von uns, einer der leidet, der Schmerzen hat, der schließlich stirbt. Alle Tiefen lotet er aus, die ein Mensch erfahren kann; alle Qualen durchlebt er, die ein Mensch in seinem Leben zu fühlen bekommt. Ich kann es nicht anders sagen: Dieser Gott am Kreuz zahlt einen teuren Preis für uns, um uns heimzuholen, um uns die Augen zu öffnen, damit wir sehen, damit wir erkennen, dass wir ihm wertvoll sind, kostbar.

Welch eine Geschichte Gottes mit uns Menschen. Und heute sagt er uns in seinem Sohn: „Ich bin bei euch, ich berge alles. Ich lasse dich, Mensch, wenn du leiden musst, nicht allein.“

Diese Zusage Gottes gilt uns allen, liebe Schwestern und Brüder, denn Gott selbst ist in das Leiden hineingetaucht, er leidet mit, er leidet mit uns und mit allen, die auf der Verliererseite stehen.

Das ist aber nicht das Letzte. Das genügt nicht. Vielmehr stellt sich doch angesichts all dieser Not und angesichts des Elends die Frage damals wie heute: Was wird aus ihm? Was wird aus uns?

Es wird nur gut, wenn Leiden und Sterben, wenn Verlieren und Untergehen nicht das Letzte sind. Es wird nur gut, wenn Gott aus diesem entsetzlichen Tod neues Leben schaffen kann. Menschlich gesehen geht das nicht.

Tot ist tot und Schluss ist Schluss. Das ist die einzige Erfahrung, die wir immer wieder machen.

Doch heute steht alles an der Wende. Kann dieser Gott die Regeln ändern? Kann er alles umdrehen, was wir als Menschen erfahren und erleben müssen? Kann es sein, dass aus Verlierern Sieger werden? Dass aus Schande Ansehen wird? Dass aus aller Hoffnungslosigkeit ein Neubeginn erwächst? Glauben wir, dass Gott  zu retten vermag, was in unseren Augen nicht mehr zu retten ist, am Ende?

Liebe Schwestern und Brüder, das ist die bange Frage des Karfreitags. Das ist die bange Frage unseres Lebens. Der Karfreitag sagt uns noch nicht, wie alles ausgeht. Und wir müssen es auch nicht wissen. Denn die Antwort auf all unser Fragen braucht Zeit, braucht Geduld. Vielleicht drei Tage, vielleicht ein ganzes Leben lang. Eines aber glaube ich: Wenn ein Mensch durch Leiden und Kreuz hindurchgegangen ist, wenn er das Leid angenommen und vielleicht sogar mit lieben Menschen, die ihm das Schweißtuch reichten auf dem tränenreichen Weg, die ein gutes Wort für ihn hatten, die mit ihm geweint haben – wenn er all das getragen und ertragen hat und dabei Auge in Auge war mit dem Gekreuzigten, auch durch die Nacht des Zweifels hindurch – er wird durch ihn zum Licht gelangen, das nur der Herr zu schenken vermag. Amen.